Polnischer Regierungschef: "EU muss stärkste Macht der Welt werden"
Von Elem Chintsky
Am 12. April 2024 veröffentlichte unter anderem die Partei des polnischen Ministerpräsidenten Donald Tusk einen kurzen Zusammenschnitt seiner letztwöchigen Rede über die Rolle der EU in der Welt und darüber, dass sie das "stärkste politische Subjekt der Welt werden müsste". "Wir sind mit unseren wirtschaftlichen, finanziellen, technologischen und demografischen Voraussetzungen größer und stärker als die USA und Russland zusammengenommen", legt der ehemalige EU-Ratspräsident dann noch offen.
"Es gibt keinen Grund, Minderwertigkeitskomplexe zu hegen. Es gibt überhaupt keinen Grund, dass Europa auf die Hilfe von irgendwem warten müsste. Europa wurde erschaffen, sodass es sich selber schützt und so auch andere – gründlich und auf eigene Rechnung."
Den Satz "Es gibt überhaupt keinen Grund, dass Europa auf die Hilfe von irgendwem warten müsste" hatte Tusks liberale Bürgerplattform in ihrem YouTube-Short nämlich auf eigenes Ermessen hin herausgeschnitten. Der staatliche Nachrichtensender TVP Info sowie Tusks Kanzlei haben ihn hingegen beibehalten, da dort die volle Rede gezeigt wurde.
Diese Worte fand Tusk beim Besuch seines Amtsnachfolgers, des EU-Ratspräsidenten Charles Michel, in Warschau am vergangenen Donnerstag. Das Treffen beider soll der Herausarbeitung einer neuen, langfristigen "strategischen EU-Agenda" gewidmet worden sein. Tusk meinte auch, dass es "kein Zufall ist, dass ein solches Treffen ausgerechnet in Warschau stattfindet".
Es kursiert die These, dass die EU einst als ein camoufliertes Viertes Reich unter der Führung der Bundesrepublik Deutschland hätte entwickelt werden können (vor allem ausgelöst durch Gerhard Schröders wirtschaftsfördernde Realpolitik mit Moskau, dann angetrieben durch die Merkel-Ära der pragmatischen, russisch-deutschen – und mit heutigem Wissen – vorgegaukelten Energie-Freundschaft). Die polnische Republik scheint unter Tusk signalisieren zu wollen, dass sie bereit wäre, ein solches Projekt weiterzuverfolgen, sofern Warschau in diesem Schema Berlin als Dreh- und Angelpunkt ablösen würde.
Gleichzeitig will Warschau aus "moralischen Gründen" mit Moskau und seinen billigen Energieträgern nichts zu tun haben – ganz besonders, falls der jetzige Krieg in Osteuropa zu Ungunsten Kiews entschieden wird. Letzteres erscheint jedoch bereits sicher.
Billige Energie aus Russland war der Hauptgrund für Deutschlands Rolle als motivierter und pflichtbewusster Nettoeinzahler in die EU-Haushaltskasse. Eine Kasse, aus der besonders Warschau seit 2004 in ein kosmetisches Wirtschaftswachstum hineingesteuert werden konnte. Da Staatsverschuldungen weder in Polen noch sonst wo im Westen groß debattiert und nur von der peripheren, chancenlosen Opposition erwähnt werden, kann das Bild eines polnischen Atlas, der das Himmelsgewölbe eines "EU-Wirtschaftswunders" auf seinen Schultern trägt, gezeichnet werden.
Da aber die deutsche (und somit die EU-)Deindustrialisierung als eine US-amerikanische Methode offengelegt wurde, diesen emanzipierenden Machtaufstieg der EU unter französisch-deutschem Vektor und einer gesunden strategischen Zusammenarbeit mit Moskau zu neutralisieren und zu unterbinden, bleibt der neutrale Beobachter erneut mit der offenen Frage zurück: Da die polnische Nachfolge in dieser Hinsicht einer "EU-Supermacht" vollkommen konstruiert und unglaubwürdig erscheint, ist diese machtpolitische Selbstpeinigung des jetzigen, neoliberalen Staatenbundes auf die intellektuelle Unfähigkeit der EU-Eliten und ihrer Subjekte zurückzuführen, oder ist eine vorsätzliche Ignoranz im Spiel, die darauf anspielt, dass die gewählten und nicht gewählten EU-Volksvertreter eigentlich ganz anderen Interessen von Übersee verpflichtet sind?
Dass nun der polnische Regierungschef diese alte, vollkommen verwehte Schnapsidee von einem "eigenständigen, souveränen, hegemonialen" alten Kontinent Europa heraufzubeschwören versucht, ist ferner aus einem anderen Grund als These schwer haltbar. War es doch stets Warschau, das in den USA für sich den wichtigsten, existenziellen Sicherheitsgaranten seit spätestens 1989 gesehen hat. Tusks Aussagen vom letzten Donnerstag könnten auch als eine Antizipation eines bald von Donald Trump geführten Amerikas verstanden werden, weshalb man "sowieso nicht auf die USA angewiesen" sein wollen würde.
Hier zeigt sich die Schizophrenie der Europäer klar: Tusk, Macron, Scholz und die anderen gelten als die am meisten verpflichteten Moralapostel, wenn es um die Notwendigkeit eines Sieges Kiews über Moskau geht. Macron bangt zusätzlich um die neokolonialistische, französische Präsenz im afrikanischen "Coup-Gürtel", der aus vielen Sahelstaaten besteht, die bereits im großen Maßstab Frankreichs (nicht nur militärischen, auch geldpolitischen) Einfluss – ausgerechnet dank russischer Hilfe – verdrängt haben. Dies ist auch der Hauptgrund, weshalb Macron von allen EU-Führern derzeit Moskau gegenüber die aggressivste Kommunikation pflegt.
In jedem Fall ist der eigentliche EU-Pfad jetzt ein unnachgiebig ratternder Motor, der durch einen, für Europäer vollkommen verschleierten, US-amerikanischen Schlüssel am Laufen gehalten und beschleunigt wird – hin zum sicheren Untergang der Größe Europas, wie man sich an sie noch heute nominell zu klammern versucht. In einem solchen Licht klingt Tusks Rhetorik dilettantisch bis unehrlich.
Zu guter Letzt ist es derselbe Ukraine-Krieg – im Übrigen auf dem Pfad der Eskalation, wo Moskau in absehbarer Zeit den Kiewer Zugang zum Schwarzen Meer ganz abschneiden wird –, der sich in allen relevanten Domänen ebenfalls verheerend auf die EU auswirkt. Jede neue Waffen- und Kreditlieferung zur Unterstützung des Kiewer Regimes wird genau dieses geopolitische Machtprojekt der EU vollkommen im Keime erdrücken. Ob diese Ambitionen nach 1989 jemals ernst gemeint waren, oder seit Jahren pure, für die europäischen Normalverbraucher selbst kaum wahrnehmbare Koketterie darstellen – das ist zurzeit unbekannt, aber vor allem irrelevant.
Falls es Tusk aber "ernst meinen" sollte, ist die offensichtlichste Ironie, dass der polnische Regierungschef die lange und vermögende Tradition – in der aufmüpfige Länder die USA um die primäre Machtstellung auf der Welt (oder auf dem eigenen, heimischen Kontinent) herausgefordert hatten, entweder mit einer "Revolution" beglückt, in einen Krieg verwickelt oder von einer anderen, signifikanten Pechsträhne heimgesucht wurden – nicht vor Augen hat. Eine tragische Wissenslücke. Sicherlich liegen nämlich alle drei Optionen startbereit auf dem reich gedeckten Tisch im White House Situation Room (SITROOM). Das Meme-Zitat Victoria Nulands – "Fuck the EU" – bleibt hierbei nach wie vor Programm.
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Elem Chintsky ist ein deutsch-polnischer Journalist, der zu geopolitischen, historischen, finanziellen und kulturellen Themen schreibt. Die fruchtbare Zusammenarbeit mit RT DE besteht seit 2017. Seit Anfang 2020 lebt und arbeitet der freischaffende Autor im russischen Sankt Petersburg. Der ursprünglich als Filmregisseur und Drehbuchautor ausgebildete Chintsky betreibt außerdem einen eigenen Kanal auf Telegram, auf dem man noch mehr von ihm lesen kann.
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