Die Kriegspolitik der USA um jeden Preis und der Gehorsam der EU
Von Tarik Cyril Amar
In einem viel beachteten Interview erklärte der ehemalige deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder, dass ein Kompromissfrieden zur Beendigung des Krieges in der Ukraine in greifbarer Nähe war, als sich die Verhandlungsführer der Ukraine und Russlands im vergangenen Frühjahr in Istanbul trafen. Dieses Abkommen hätte auch ein Ende der Erweiterung der NATO nach Osten, die Neutralität der Ukraine, internationale Sicherheitsgarantien und innerstaatliche Vereinbarungen zur Wiedereingliederung der separatistischen Gebiete des Donbass bedeutet.
Ein so schnelles Ende des Krieges hätte einen großen Unterschied zu heute ergeben, wie einige Fakten deutlich machen. Während wichtige Details geheim bleiben und manche Einschätzungen umstritten sind, so ist doch sicher, dass der größte kriegerische Konflikt in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg zu mehreren hunderttausend Opfern unter den Streitkräften der Ukraine geführt hat. Die Zahlen der zivilen Opfer sind angeblich niedriger. Die UN warnt jedoch davor, dass diese Zahlen wahrscheinlich zu niedrig angesetzt wurden. Nach Angaben der UN gibt es weltweit auch mehr als 6,2 Millionen registrierte ukrainische Flüchtlinge, von denen sich fast alle entweder in Russland oder in West- und Mitteleuropa befinden. Dazu kommen noch 5,1 Millionen Binnenvertriebene, die sich irgendwo innerhalb der Ukraine aufhalten.
Nach Angaben der Weltbank ist das Bruttoinlandsprodukt der Ukraine im Jahr 2022 um fast ein Drittel gesunken, wodurch ein Viertel der Bevölkerung des Landes unter die Armutsgrenze gefallen sei. Soweit sich die wirtschaftlichen Aussichten des Landes leicht verbessert haben, so ist dies auf die massiven Zuflüsse westlicher Gelder zurückzuführen, wodurch allerdings auch die Korruption im Land sicherlich noch verschärft wurde. Im vergangenen März wurden die Kosten für den Wiederaufbau des Landes auf sagenhafte 411 Milliarden US-Dollar über einen Zeitraum von zehn Jahren geschätzt.
Ein Teil der Verwüstungen in der Ukraine war bereits eingetreten, als die Waffenstillstandsgespräche in Istanbul schließlich scheiterten. Aber das meiste der Verwüstungen sollte erst danach noch über die Ukraine kommen. Gleichzeitig kam es zu einer immer katastrophaleren Verschlechterung der Beziehungen des Westens zum Rest der Welt und auch zu einem erhöhten Risiko eines globalen Krieges.
Gerhard Schröder ist ein langjähriger kluger deutscher Politiker, der kein Blatt vor den Mund nimmt. Er wurde jedoch oft wegen seiner guten Beziehungen zu Russland angegriffen. Skeptiker könnten an seiner Zuverlässigkeit oder Unparteilichkeit zweifeln. Doch was auch immer man über den Ex-Bundeskanzler denken mag, es gibt keinen vernünftigen Grund, ihm in dieser Angelegenheit nicht zuzuhören. Er verfügt über fundiertes Insiderwissen von diesen Waffenstillstandsverhandlungen. Er vermittelte – auf Wunsch der Ukraine – die Kontaktaufnahme zwischen Kiew und Moskau und führte Gespräche mit dem ukrainischen Chefunterhändler Rustem Umerow, der heute Verteidigungsminister der Ukraine ist, auch mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin und anderen Offiziellen aus Russland.
Die Bemerkungen von Gerhard Schröder in seinem Interview mit der Berliner Zeitung stimmen auch weitgehend mit anderen vorliegenden Fakten überein. Im vergangenen Jahr berichtete die Ukrainskaja Prawda – die nicht im Verdacht steht, Russland zu bevorzugen –, dass ein Waffenstillstandsabkommen erzielt worden sei, das jedoch nach einer Intervention des damaligen britischen Premierministers Boris Johnson in letzter Minute fallen gelassen wurde. Der russische Außenminister Sergei Lawrow hat diese Version der Ereignisse nachdrücklich bestätigt – auch wenn die Ukrainskaja Prawda ihren eigenen Bericht darüber später zurückgezogen hat, sicherlich unter dem Druck seitens der Machthaber in Kiew.
Naftali Bennett, der ehemalige israelische Premierminister und ein wichtiger internationaler Vermittler der Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland im Frühjahr 2022, erklärte öffentlich, dass seine Bemühungen, einen Waffenstillstand zu erzielen, der Westen blockiert habe – mit Washington als treibender Kraft. Die Details darüber variieren, aber im Wesentlichen stimmt die Erzählung von Gerhard Schröder mit all dem überein. Da sich mittlerweile so viele Fakten ansammeln, ist das Urteil über die Ereignisse nicht mehr von der Hand zu weisen: Zumindest bestand im Frühjahr 2022 eine erhebliche Chance für einen Kompromissfrieden zwischen Russland und der Ukraine.
Man muss auch anerkennen, dass dieser Kompromissfrieden nicht durch die Ereignisse in der Ukraine zunichte gemacht wurde, nicht einmal durch die Tötung von Zivilisten in Butscha – wofür Kiew und der Westen Russland verantwortlich machen, während Moskau behauptet, das Massaker sei vollständig von der Ukraine inszeniert worden. Der Kompromissfrieden wurde von Washington zunichte gemacht und hat Kiew – und der Welt – den Ausstieg aus diesem Krieg nicht erlaubt. In Washington betrachtet man – tragisch für die Ukraine – dieses Land als einen Stellvertreter in einem unerklärten Krieg gegen Russland, der als solcher für die USA einen zu hohen Wert hat, als aufgegeben zu werden. All das entbindet die Regierung von Wladimir Selenskij nicht von ihrer eigenen Verantwortung, Washington blind zu gehorchen. Die bittere Ironie ist, dass ein Staatspräsident, der nicht müde wird, sich auf die Souveränität und Handlungsfähigkeit der Ukraine zu berufen, es versäumt hat, diese Souveränität zu bewahren, womit er sein Land hätte retten können.
Wenn Klarheit darüber herrscht, was im Frühjahr 2022 geschah, bleiben zwei wichtige Fragen offen: Warum waren die USA nicht bereit, diesen Krieg enden zu lassen? Und was bedeutet das alles für die Gegenwart und möglicherweise auch für die Zukunft?
Mit Blick auf Washingtons Beweggründe im Frühjahr 2022 hat Naftali Bennett wohl Recht: Die Administration von Joe Biden war optimistisch, dass sie noch mehr draufhauen und sogar Russland in der Ukraine wohl besiegen kann. Die Fortsetzung des Krieges schien in Washington für die USA von Vorteil zu sein: Russland würde einen schweren geopolitischen Rückschlag erleiden. Sein Militär, die Wirtschaft, die Regierung und das internationale Ansehen würden geschwächt werden, während die USA beweisen könnten, dass sie auf die Weltbühne "zurückgekehrt" seien – wie Biden zu sagen pflegt.
Durch die Schwächung von Russlands Macht hätten die USA zugleich auch die Partnerschaft zwischen Moskau und Peking untergraben und somit das wichtigste geopolitische Element der entstehenden neuen multipolaren Weltordnung geschädigt. Darüber hinaus hätten sie dem alten Erzfeind aus der Zeit des Kalten Krieges und dem heutigen Herausforderer einen solchen Schlag versetzt, der die peinliche Niederlage der USA ein Jahr zuvor in Afghanistan wettgemacht hätte.
Wer Schwierigkeiten hat, die oben dargelegte Bewertung mit Bidens Versprechen in Einklang zu bringen, die "ewigen Kriege" der USA zu beenden, muss zwei Dinge bedenken: Politiker brechen üblicherweise Versprechen. Gleichzeitig hat man in Washington wohl nicht damit gerechnet, dass sich dieser Krieg in der Ukraine doch lange hinziehen würde. Stattdessen rechnete man mit einer relativ schnellen Niederlage Moskaus – rechtzeitig vor den US-Präsidentschaftswahlen in 2024. Vielleicht rechnete man im Weißen Haus sogar mit einem Zusammenbruch des russischen Staates, herbeigeführt durch eine vom Westen ausgerüstete und ausgebildete ukrainische Armee, mit ausländischen "Beratern" und "Freiwilligen". Man wollte einen Wirtschaftskrieg, totale internationale Isolation und innenpolitische Zerreißproben für Russland herbeiführen.
Dieser US-amerikanische Optimismus war völlig fehlgeleitet, wie wir heute sehen, und man schon früher hätten begreifen können. Ich weiß es, weil ich es verstanden habe. Aber lassen wir die Diskussion beiseite, warum die US-Führung solch einen gravierenden Fehler machen konnte. Übermut gab es in der Geschichte schon häufiger und er war und ist dennoch immer schwer zu erklären.
Die Schlussfolgerungen, die wir für die Gegenwart und Zukunft ziehen können, sind leider entmutigend, ja sogar beängstigend. Es wäre Wunschdenken anzunehmen, dass Washington zumindest unter der gegenwärtigen Regierung aus seinen Fehlern lernen wird. Die derzeitigen Schritte der USA in Bezug auf die Ukraine – und noch mehr im Nahen Osten – lassen zwei Interpretationen zu: Entweder ziehen die USA ihre Streitkräfte zusammen, um die israelische Aggression gegen die Palästinenser vor jeder Einmischung von außen abzuschirmen, oder sie tun das, um sich auf einen größeren Krieg vorzubereiten, in dem wahrscheinlich auch Syrien und Iran involviert sein werden.
Wichtig bleibt zu verstehen, dass die USA in beiden Fällen ihre Aggressivität noch verstärken, anstatt vorsichtiger zu werden. Letzteres würde schließlich bedeuten, andere Staaten als Partner mit einzubeziehen, anstatt sie auszugrenzen oder ihnen sogar mit einem Angriff zu drohen. Das alles können wir empirisch beobachten, ohne dass Informationen – oder Spekulationen – darüber erforderlich sind, wie die US-Regierung zu ihren rücksichtslosen Entscheidungen kommt.
Schließlich hat der Krieg in der Ukraine eine weitere Tatsache verdeutlicht und die Befürchtung gefestigt, die Anlass zu Pessimismus geben. Auf die Frage, ob er, Gerhard Schröder, glaube, dass das, was im Frühjahr 2022 möglich war, auch jetzt noch machbar sei, sagte er: Ja, solange Deutschland und Frankreich die Initiative ergreifen würden. Doch darauf zu hoffen, dürfte ein Irrtum sein. Abgesehen davon, dass Moskau möglicherweise nicht mehr bereit ist, denselben Kompromiss einzugehen, haben die maßgeblichen Politiker weder in Berlin noch in Paris die Fähigkeit unter Beweis gestellt, eine auch nur in Teilaspekten unabhängige Rolle zu spielen. Vielmehr sind sie den USA gegenüber so unterwürfig, dass sie sich im wahrsten Sinne des Wortes selbst verletzen. Die Aussichten sind düster, aber so ist es nun mal: Die USA betreiben weiterhin eine Kriegspolitik um jeden Preis, und die EU übt sich in Gehorsam – um jeden Preis.
Übersetzt aus dem Englischen
Tarik Cyril Amar ist Historiker an der Koç-Universität in Istanbul, befasst sich mit Russland, der Ukraine und Osteuropa, der Geschichte des Zweiten Weltkriegs, dem kulturellen Kalten Krieg und der Erinnerungspolitik. Er findet ihn auf X unter @tarikcyrilamar.
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